Hermann Schmitz (†) - Kondolenz


Liebe Mitglieder der Gesellschaft für Neue Phänomenologie,

mit diesem digitalen Kondolenzbuch möchten wir Ihnen Gelegenheit geben, Worte des Abschieds, der Erinnerung oder Würdigung zu finden und zu veröffentlichen. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir die Beiträge nur mit einer kleinen Verzögerung online stellen können.


Die Grabstätte von Hermann Schmitz befindet sich auf dem Friedhof Poppelsdorf (Servitenweg, 53115 Bonn) bei der Nr. 232 Abt. XXIII. 


Dr. Hanna Lauterbach (München)

Für das Kondolenzbuch der GNP zum Tod von Hermann Schmitz am 5.5.2021

Noch wenige Tage, dann ist es ein Jahr her, dass Du diese Welt verlassen hast, Hermann. Du fehlst mir sehr. Ich wusste, dass es ein Loch in mein Leben reißen würde, wenn Du mir eines Tages nicht mehr schreibst, wenn es keine langen Gespräche in Deinem Wohnzimmer, keine gemeinsamen Essen mehr geben würde.

Wir kannten uns dreißig Jahre lang. Zwanzig davon waren wir in Briefkontakt und ich habe Dich, wenn es umständehalber möglich war, einmal im Jahr besucht. Die letzten zehn Jahre haben wir uns geduzt. Eine „Geistfreundschaft“ hast Du unsere Freundschaft genannt. Ich würde sagen, es war eine philosophische Freundschaft.

Beide Bezeichnungen waren, bzw. sind einschränkend gemeint. Sie drücken aus, dass es sich bei unserer Beziehung nicht um eine Freundschaft im vollen Sinne des Wortes handelte. Kann es zwischen einem Philosophen und einer Philosophin, deren Altersunterschied mehr als 30 Jahre beträgt, überhaupt eine Freundschaft geben? Kann eine Beziehung eine Freundschaft sein, wenn überwiegend unnachgiebig gestritten wird und Stunden harmonischen Beisammenseins nur ausnahmsweise vorkommen?

Von Kurt Flasch gibt es ein Buch, das „Kampfplätze der Philosophie“ heißt. Unsere Korrespondenz, Hermann, war zu fünfundneunzig Prozent ein philosophisch-politisches Schlachtfeld. Es gab drei Aufmarschgebiete: Erstens Feminismus und Patriarchat (auch in Deinem Werk); zweitens Religion, insbesondere das Christentum; drittens unser abgrundtief verschiedenes Verhältnis zu Hitler-Deutschland und zum Holocaust.

Du hast darauf verzichtet, mich unbarmherzig auseinanderzunehmen wie so manchen männlichen Kollegen, der es wagte, Dein Werk öffentlich zu kritisieren. Aber inhaltlich, d.h. argumentativ, hast Du mir nie etwas geschenkt. Ich musste mich warm anziehen, wenn ich mit Dir debattierte. Dagegenhalten. Argumente führen wie ein Florett. Touché!

Wenn wir uns vis-à-vis gegenübersaßen, verliefen unsere Auseinandersetzungen milder. In den ersten Jahren hast Du mir selten in die Augen geschaut und oft mit in die Ferne gerichtetem Blick doziert oder zitiert. Ich hörte zu: fasziniert, bemüht, alles zu verstehen und sehr offen. Als junge Frau kam es mir vor, als ob meine Intelligenz und Bildung eben ausreichten, um Dir zu folgen und zum Fortgang des Gesprächs beizutragen.

Je später der Abend, desto mehr Anekdoten aus dem Leben von Dichtern und Denkern hast Du erzählt. Manchmal konnte ich schlagfertig mithalten und wir haben miteinander gelacht. Manchmal fühlte ich mich gehemmt und schüchtern. Da hast Du einmal zu mir gesagt: „Man muss nicht immer geistreich sein.“ Das hat die Atmosphäre entspannt und die erste Frühlingswärme in unsere Begegnungen gebracht.

Ich erinnere mich an einen meiner ersten Besuche bei Dir, es war Anfang der 90er Jahre an einem Sommerabend. Ich saß vergnügt und barfuß in einem grünen, geblümten Kleid auf Deinem alten braunen Ledersofa. Da hast Du mir hintersinnig lächelnd ein Glas von Deinem köstlichen spanischen Rotwein eingeschenkt. Und mir dann mitgeteilt, dass es sich um Deinen „zweitbesten Wein“ handeln würde. So eine Geste, die gastfreundliche Zuwendung und eine kleine Gemeinheit unspaltbar miteinander verband – das war typisch für Dich.

Aber es gab auch unzweideutige Freundschaftszeichen. So hast Du mich oft am Gleis abgeholt, wenn ich nach langer Zugreise auf dem Kieler Bahnhof eintraf. Einmal hast Du so intensiv nach mir Ausschau gehalten, dass Du mich erst gesehen hast, als ich unmittelbar vor Dir stand.

Das Gros der philosophischen Tradition sagt, dass es Freundschaft nur unter Gleichen geben könne. Unsere war durch Ungleichheit geprägt: Geschlecht, Altersunterschied, sozialer Status und philosophisches Ingenium – fast alles war asymmetrisch verteilt, überwiegend zu Deinen Gunsten. Wenngleich ich aufholte, als ich älter und Dir gegenüber selbstsicherer wurde. Du bist fast immer gut und fair mit unserer Ungleichheit umgegangen. Ich fühlte mich als Gesprächspartnerin immer gefordert, aber niemals disqualifiziert.

Mit „Wittgensteins Spaten“ hatten wir es natürlich trotzdem zu tun. Er biegt sich bekanntlich, wenn die Argumente irgendwann an ein Ende und der harte Boden der jeweiligen dogmatischen Überzeugungen zum Vorschein kommt. Dann kann es sein, dass das Begründen in ein Erzählen übergeht, ein Erzählen von dem, was das eigene Leben unwiderruflich geprägt hat. Dazu war ich weit häufiger bereit als Du. Aber das Gefühl dafür, wann das Begründen an ein Ende gekommen war, haben wir meistens geteilt. Als wir älter bzw. alt wurden, haben wir selbst den (für mein Gefühl) schmerzlichsten Dissens in seiner Unauflöslichkeit stehen lassen können. „Ich möchte Dir nicht zu nahetreten“ – so hast Du es ausgedrückt. Für mich stellte es sich anders dar. Aber das würde jetzt zu weit führen.

Dass nur ein Genie so ein Werk geschrieben haben konnte, davon hatte ich mich bald überzeugt, als ich als junge Philosophin um 1989/1990 herum Die Gegenwart gelesen hatte, den ersten Band Deines Systems der Philosophie. Gernot Böhme verdanke ich es, dass ich überhaupt auf Dich aufmerksam geworden bin. Er hatte sich in einem Kolloquium an der Münchner Universität fürchterlich aufgeregt, als sich herausstellte, dass niemand der Anwesenden, mich eingeschlossen, einen Philosophen namens Hermann Schmitz kannte.

Begegnet bin ich Dir zum ersten Mal in Seewiesen bei Starnberg, am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie. Ich glaube, es war im Jahr 1991. Du hast über „Tiere als Bewussthaber“ gesprochen und die Reaktionen waren enttäuschend. Außer Professor Mittelstädt, dem Institutsleiter, schien keiner der anwesenden Biologen Deinen Vortrag verstanden zu haben. Es kam keine rechte Diskussion auf und die Zuhörer suchten bald das Weite.

Ich war als ungeladene Gästin an diesem sonnigen Wintertag in Moonboots und Lammfellmantel durch den Tiefschnee gestapft, weil eine befreundete Physikerin mir erzählt hatte, dass Du am MPI vortragen würdest. Jetzt nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, doch bald stellte sich heraus, dass es nicht schwer war, mit Dir ins Gespräch zu kommen.

Du warst ein älterer, aber noch kein alter Mann, groß, dünn, mit Krawatte und eckiger Metallbrille. Ein bisschen spröde, aber sehr zugänglich für echtes philosophisches Interesse jeder Art. Ich war gerade dreißig, eine junge analytische Philosophin, die sich im Alleingang durch Dein System kämpfte, frauenbewegt und lebenslustig.

Wir redeten immer weiter. Niemand rang sich dazu durch, mich rauszuwerfen. Schließlich luden die Mittelstädts uns zu Kaffee und Kuchen ein und wir unterhielten uns zu viert bis zum Einbruch der Dunkelheit. Ein Jahr später hörte ich einen zweiten Vortrag von Dir am Münchner Institut für medizinische Psychologie. Kurz danach schrieb ich Dir und die erste, siebenjährige Phase unseres Briefwechsels begann.

Was mich damals an der Neuen Phänomenologie begeisterte, waren ihre neuartigen Kategoriensysteme. Sie ließen den dunklen Kontinent der leiblichen Regungen erstmals ans Licht treten; ebenso das Reich der Gefühle als Atmosphären und die mit beidem verbundene Theorie flächenloser Räume. Auf einmal wurden mir Phänomenbereiche intelligibel, mit denen ich positive praktische Erfahrungen hatte, die jedoch aufgrund ihrer unbefriedigenden „energetischen“ Theoriesprache von Vielen als esoterischer Quatsch abgetan wurden: die vielfältigen, aus der Jugend des 20. Jahrhunderts stammenden Körperpsychotherapien und die leibnahen, atmosphärenreichen Ritualkünste der Spirituellen Frauenbewegung der 80er und 90er Jahre.

Zweitens bewundere ich bis heute die Kühnheit und Genialität der ontologischen Architektur der Neuen Phänomenologie, die untrennbar mit ihrer Mannigfaltigkeitslehre verzahnt ist. Warum wird dieser große systematische Entwurf noch immer kaum diskutiert? Ich finde ihn atemberaubend. Außer Habermas mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns, die zugleich als Theorie der Moderne firmierte, hatte unter Deinen philosophischen Zeitgenoss:innen kaum jemand etwas Vergleichbares gewagt.

Ich kannte und schätzte Habermas‘ Werk, als ich begann, das System der Philosophie zu lesen. Doch als ich es mit Deinem Ansatz beim elementaren leiblichen Betroffensein verglich, fiel mir auf, wie rationalistisch und logozentrisch verengt die Theorie des kommmunikativen Handelns angelegt war. Sie geht ausschließlich von Wissenstypen, Diskursen und Sprechakten aus und verkennt die philosophische Bedeutung der leiblichen, vorsprachlichen Grundzüge unseres Daseins.

Die Neue Phänomenologie schlägt sich weder auf die Seite der monistischen Ontologien, noch auf die der dualistischen. Sie dynamisiert vielmehr diesen alten Gegensatz durch ihr Prinzip der bipolaren Gegenwart. Dadurch macht sie uns Europäer:innen erstmals unsere Nähe und Verwandtschaft zu den Tieren begreiflich, die durch die Weichenstellungen der antiken griechischen Philosophie ausradiert worden war. Auf diese Weise korrigiert die Neue Phänomenologie eine der verhängnisvollsten Fehlentwicklungen des europäischen Welt- und Menschenbildes.

Wie wir alle hattest auch Du Deine blinden Flecken, Hermann. Darf ich ein Beispiel nennen? Du hast den patriarchalen und androzentrischen Charakter unserer Kultur fast völlig ignoriert. Deine Privilegien als weißer Mann wolltest Du nicht zur Kenntnis nehmen. Dadurch war Deine Arbeit an der symbolischen Ordnung in meinen Augen nicht radikal genug und in manchen Punkten kritikwürdig.

Wenn ich Dir hier die Stirn geboten habe, dann konnte ich das nur, weil ich meine Lehrmeisterinnen aus der Frauenbewegung und einige Frauen, die mich liebten, als Kraft in meinem Rücken spürte. Es musste einfach Philosophinnen geben, die Dir den patriarchalen bias nicht durchgehen ließen. Ich wollte eine dieser Frauen sein.

Aber nicht dies, sondern etwas anderes soll heute mein letztes Wort an Dich sein, Hermann: mein tiefer Respekt für das Opfer an Lebensmöglichkeiten und wohl auch an Lebensglück, das Du über sechs Jahrzehnte Deinem philosophischen Werk gebracht hast. Die Kehrseite Deiner außerordentlichen Gaben war eine unbedingte Verpflichtung, der Du Dich nicht entzogen hast. Du hast in vieler Hinsicht wie ein Mönch gelebt, um etwas zu tun, das niemand anders an Deiner Stelle hätte tun können.

Lou Andreas-Salomé hat etwas Richtiges gesehen, wenn sie in ihrem Essay Der Mensch als Weib (1899) ihre Hochachtung für einen bestimmten Typus Mann zur Sprache bringt, den sie besonders schätzt:

"... [er] verzichtet auf eine ganz harmonische Auslebung seiner selbst in jenem Wechselspiel aller Kräfte, das schön, froh und gesund erhält, sobald er durch eine mächtige Spezialisierung seiner Kräfte ein ihm verschwebendes Ziel erreichen kann; die Sache, die er hoch stellt, verstümmelt ihn unter Umständen, und gerade der Umstand, dass er dazu im Stande war, macht ihn männlich groß."

 


Seit Hermann Schmitz' Tod hat sich meine Erinnerung an ihn zu einem Bild von umso größerer Lebendigkeit verdichtet - die vornübergeneigte Haltung, der luzide, freundlich forschende Blick, das echte Interesse an inhaltlicher Verständigung ohne Ansehen der Person, die fortwährende Aufgabe des Sichbesinnens auf unser Sichfinden in unserer Umgebung... all dies hat einen tiefen, ja unauslöschlichen Eindruck hinterlassen, der nicht allein mein Nachdenken, sondern auch meinen Lebensweg nachhaltig beeinflußt hat.

Ich nehme in tiefer Dankbarkeit Abschied von Hermann Schmitz. Möge sein Lebenswerk weithin wirken.

Dr. phil. Dr. med. Eva Kreikenbaum


In dankbarem Gedenken an Hermann Schmitz, gest. 5. Mai 2021

„Meine Psychokumpane“ (welch ehrenvoller Titel!), so nannte Hermann Schmitz uns, seine Hamburger Gruppe von Psychotherapeuten und Unternehmensberatern. 1988 war er von Gerhard Risch und Hermann Gausebeck gefragt worden, ob er bereit sei die Gruppe in Hamburg zu besuchen und dabei zu unterstützen, seine Neue Phänomenologie auf psychotherapeutische Fallbesprechungen anzuwenden. Zu unserem großen Glück war er selbst sehr interessiert daran, sein System an lebenden Menschen darzulegen und zu überprüfen, da er bis dahin seine 'Fälle' meist nur aus der Literatur bezogen hatte. Und so folgten über viele Jahre regelmäßige, spannende, ungemein bereichernde Treffen; oft auch 'nach getaner Arbeit' interessante Gespräche bei einem Glas Wein, in zunehmend offener, herzlicher Atmosphäre.

Wir waren beeindruckt von seiner Toleranz: Während psychotherapeutische Schulen oft implizit ein bestimmtes Menschenbild als „gesund“ privilegieren, begegnete er voller Achtung der jeweils individuellen Lebensleistung von Menschen, auch wenn sie manchmal den üblichen Normen so gar nicht genügten. Und welch ein Genuss, ihm sozusagen beim Sich-Besinnen zuzuhören: Hatte man einen Fall vorgestellt, begann er langsam zu sprechen, ohne etwas gleich (besser!) zu wissen. Er rekapitulierte 'einfach' die Phänomene, bei denen er beim Zuhören hängen geblieben war, bis diese sich während des Sprechens wie von selbst zu einer neuen, stimmigen Sicht auf die Person zusammenfügten. Mit dem Verweilen an der phänomenalen 'Oberfläche' öffnete sich plötzlich ein neuer, tieferer Zugang zum jeweiligen Menschen. Wir durften Zeuge sein von unmittelbar gelebter Neuer Phänomenologie, wie wir sie als 'Anwender' kaum je erreichen werden.

Mit dem Tod seines Freundes Hans Werhahn endeten die Treffen in Hamburg.

Im Herbst 2019 haben wir Hermann Schmitz noch einmal in Kiel besuchen können und waren beeindruckt, mit welcher Fassung er seine zunehmenden körperlichen Beeinträchtigungen meisterte.

Nun kann man ihn zu nichts mehr fragen, er fehlt.

Heinz Becker, Christian Döldissen, Gabriele Marx, Friedhelm Matthies, Gerhard Risch ( vom Hamburger Arbeitskreis Neue Phänomenologie )


 

Eintrag ins digitale Kondolenzbuch – zum Video „Warum geht uns Bachs Musik so nahe, auch wenn uns der Glaube fern ist?“

Das Video zeigt Ausschnitte aus einem Philosophischen Interview zur Frage „Warum geht uns Bachs Musik nahe, auch wenn uns der Glaube fern ist?“, das ich mit Hermann Schmitz am 10. Februar 2014 im Haus am Dom in Frankfurt geführt habe. Anlass war die 100. BachVesper Frankfurt-Wiesbaden, Halbzeit einer 20jährigen Reihe aller 200 Bachkantaten in Gottesdiensten.

Die Erinnerung an Schmitz‘ Besuch in Frankfurt ist mir wertvoll. Nie werde ich vergessen, wie wir den Dom betraten, er sich um- und in die Höhe sah und, spürbar bewegt doch sprachlich nüchtern, sagte „Ja, man fühlt sich emporgehoben“. Und wie liebenswürdig der als sperrig Verschriene auch war.

Das kleine Video dokumentiert für mich, wie Schmitz en passant elementare Einsichten äußern konnte, die ganze Gegenstandsgebiete erschließbar machten. Sein Satz, die Spielmotorik des Musikers sei nur das Einschmiegen in die Bewegungssuggestionen der Musik (ab 8:10 des Videos) taugt geradezu zum Ausgangspunkt jedweder reflektierten künstlerischen Instrumentaltechnik oder einer Theorie der Qualität der ästhetischen Bewegung. Wir verdanken diesen Satz notabene Schmitz‘ Liebe zu Definitionen. Wie auch einen anderen, den er bei einem Abend bei Hans Werhahn auf die Rückfrage sprach, was Aufmerksamkeit sei: Zuwendung des vitalen Antriebs im Wartestand, geleitet von der menschlichen Fähigkeit zur Vereinzelung. Dieser Satz ermöglichte mir den Versuch einer Gestalttheorie des musikalischen Rhythmus, weil er verstehbar macht, wie das Üben des Rhythmus alles Einzelne integrierend zu währenden Verläufen findet. Schmitz‘ Verständnis des Rhythmus als einer Bewegungssuggestion reiner Aufeinanderfolge ist die einzige mir bekannte Möglichkeit, dass Musiker überhaupt verstehen, was sie als Rhythmus erfahren.

Hermann Schmitz war ein großzügiger, kritischer, aber auch eindrucksvoll selbstkritischer Briefpartner. Ich verdanke ihm neben der Erhellung der Phänomene des musikalischen Rhythmus die Möglichkeit zu verstehen, wie der gekreuzigte Jesus von Nazareth als auferstandener Christus im christlichen Gottesdienst lebendig und lebendig machend zu erfahren ist – durch vielsagende Eindrücke, mit denen erinnerte Personen zur Mitte von Atmosphären werden können, in der Andacht als Spielraum für die Beweglichkeit zwischen personaler Emanzipation und Regression, und natürlich in solidarischer Einleibung als Grundlage kollektiver Sakralisierung, um mit Hans Joas zu sprechen. „Das ist Glaube“ sagte Eberhard Jüngel, als ich in der Sprache Schmitz‘ von personaler Kommunikation mit dem in Jesus Christus erscheinenden Göttlichen sprach.

Weit über die Arbeit in meinen beiden Berufen als Musiker und Theologe hinaus geht die Dankbarkeit für die erschlossene und durch Erschließen wiederum ermöglichte Erfahrung, dass das Mögliche größer ist als das Wirkliche. In Hermann Schmitz‘ Worten: dass Menschen ihren Lebensmut in der Gegenwart verankern können.

Michael Graf Münster

Pfarrer – Landeskirchenmusikdirektor a.D. – Kantor an St. Katharinen Frankfurt am Main

14. Juli 2021


Nachruf auf Hermann Schmitz

Als ich die Nachricht bekam, Hermann Schmitz sei gestorben, war meine erste Reaktion tiefe Betroffenheit und mein Kommentar: Welch ein Verlust!

Einige Tage später kamen vom Verlag die Druckfahnen meines neuen Buches zur Korrektur, in dem es um eine Phänomenologie von Gewißheits-, Wahrheits- und Evidenz-Erlebnissen aller Art geht, also um Berufungen und Bekehrungen religiöser oder politisch-ideologischer Art, um das Abgleiten in Wahnwelten, um erotische Bindungen, um Glücks-Momente und eben auch um das kongeniale Verständnis im Umgang mit wissenschaftlichen, philosophischen und ästhetischen Werken. In all diesen Fällen pflegen wir das Gewißheits-Erlebnis mit der Bekundung ›Das isses!‹ zu kommentieren, und deshalb trägt dieses Buch auch den Titel: »Das isses!«

In dem Kapitel über das kongeniale Verständnis werden grundstürzende Lese-Erlebnisse dargestellt und analysiert, und unter anderem auch meine erste Begegnung mit der Philosophie von Hermann Schmitz, und dieses Kapitel beginnt mit den Worten:

"Wenn jemand sich in ein Buch vertieft, so begibt er sich mit diesem Buch und diesem Autor in eine Art von intimer Klausur, indem er sich beiden anvertraut und sich von ihnen für eine befristete Zeit lenken und leiten läßt, denn, so Schopenhauer, „Lesen heißt mit einem fremden Kopfe, statt des eigenen, denken.“ Doch irgendwann muß man sich von diesem fremden Kopf auch wieder lösen, das Gelesene prüfen und es sich entweder aneignen, es modifizieren oder verwerfen. All das ist ein ganz alltägliches Geschäft im täglichen Leben wie in der Wissenschaft und eigentlich nicht weiter erwähnenswert.

Es gibt aber auch Lese-Situationen, bei denen man den Eindruck hat, der Horizont weite sich blitzartig, weil man bei der Lektüre auf etwas gestoßen ist, das man genauso blitzartig in seiner ganzen Tragweite verstanden hat, sodaß man sich zu dem Geständnis gedrängt fühlt: ›Das isses, was ich immer schon gesucht habe, weil es sich so liest, als sei es eigens für mich geschrieben, bzw. als hätte ich selbst es geschrieben!‹

Für Lese-Erlebnisse dieser Art, an die man sich ein Leben lang dankbar erinnert, weil man sich durch sie so unendlich bereichert fühlt und die in ihrer Erlebnis-Intensität mit Bekehrungs-Erlebnissen durchaus vergleichbar sind, hat sich ebenfalls die Bezeichnung ›kongeniales Verständnis‹ eingebürgert, den ich hier gern auch hier aufgreifen und verwenden will, weil es derzeit keinen besseren Ausdruck gibt, um diese blitzartige Aneignung nicht nur der Pointe eines Witzes, sondern größerer Denkfrüchte und sogar ganzer Denkwerke zu bezeichnen, und weil der von Goethe eingeführte Begriff ›Aperçu‹ zwar auch ein blitzartiges Verständnis bezeichnet, darüber hinaus aber noch sehr viel mehr abdeckt als bloß das ›kongeniale Verständnis‹ in diesem engeren Sinn.

Wie ein kreativer Einfall zustande kommt und durch den ihm immanenten poietischen Impuls sich als Drang-zum-Werk manifestiert, habe ich in meiner Studie DER KREATIVE IMPULS ausführlich dargestellt. Im Lichte dieser Ausführungen sieht dieses blitzartige kongeniale Verständnis eines vorliegenden Denkwerks durch einen Leser nun so aus, als vollziehe der Leser den kreativen Prozeß blitzschnell nach, den der Autor vom kreativen Einfall bis zur Niederschrift seines Werks Schritt für Schritt zurückgelegt hat, weshalb der Terminus ›kongenial‹ auch durchaus angebracht ist, aber auch ›kongenerativ‹ oder ›konkreativ‹ lauten könnte, weil die Aneignung des fremden Denkwerks ein kreativer Nachvollzug eben dieses Denkwerks ist. Doch weil dieser kreative Nachvollzug eine Aktion von höchster Intensität ist, handelt es sich dabei auch nicht um ein Gewißheits-Erlebnis, das ja immer ein Widerfahrnis ist, sondern genau wie beim Verstehen einer Pointe um ein Evidenz-Erlebnis, weil auch jeder andere dies so erleben kann.

Ich will dies am Beispiel einer eigenen Erfahrung etwas erläutern. Wie ich im Vorwort zu meiner Studie über den kreativen Impuls schon erwähnt habe, fühle ich mich durch meinen Lehrer Wilhelm Kamlah gleichsam beauftragt, sein philosophisches Vermächtnis, den Widerfahrnis-Aspekt des menschlichen Lebens zu beachten und zum Thema meiner philosophischen und wissenschaftlichen Studien zu erheben, weshalb ich immer auch nach Autoren Ausschau gehalten habe, die ein vergleichbares Programm verfolgten. Sehr viele waren das aber nicht.

Doch als ich im Juli 1977 ein Seminar über eine mögliche anthropologische Fundierung der Theorie der Schauspielkunst vorbereitete, stieß ich auf ein Buch mit dem Titel DER LEIB IM SPIEGEL DER KUNST von einem gewissen Hermann Schmitz.

Obwohl mir der Name Schmitz überhaupt nichts sagte, machte mich dieser Titel doch neugierig, sodaß ich mich in das Buch vertiefte und dort auf eine für mich völlig neue Philosophie der Leiblichkeit stieß, die Schmitz dort, um seinen Argumentationsgang vorzubereiten und zu fundieren, auf eine »Kategorientafel der Leiblichkeit« stützte, die er, wie ich las, schon in einem früheren Werk mit dem Titel DER LEIB ausgearbeitet und vorgetragen hatte, von dem ich natürlich auch nichts gehört hatte, und die er hier nochmal in gedrängter Kürze rekapitulierte.

Aber als ich dann diesen »Abriß der Struktur des Leibes« in § 95 las, hatʼs mich förmlich gerissen, und ich mußte sofort das Fenster ganz weit aufmachen, um frische Luft zu holen, denn ich hatte genau das überwältigende Erlebnis des blitzartigen kongenialen Verstehens, das sich in den Satz fassen läßt: ›Das isses, was ich immer schon gesucht habe, weil es sich so liest, als sei es eigens für mich geschrieben, bzw. als hätte ich selbst es geschrieben!‹

Was mich bei dieser Lektüre in diese fieberhafte Erregung versetzte, war der Umstand, daß Hermann Schmitz dort eine streng systematisch geordnete Palette leiblicher Widerfahrnisse entfaltet, die es einem ermöglicht, bestimmte Phänomene, und eben auch ästhetische Phänomene, überhaupt erst in den Blick zu bekommen, um sie dann genauer analysieren zu können. Und weil er in diesem Zusammenhang von »Kategorien der Leiblichkeit« spricht, war mir sofort auch klar, daß dieses Kategorien-System der Leiblichkeit zugleich auch eine entsprechende Erkenntnistheorie ermöglichen müsse, die Schmitz denn auch Jahre später tatsächlich in dem Werk NEUE GRUNDLAGEN DER ERKENNTNISTHEORIE (1994) nachgereicht hat und die das weite Feld vor-prädikativer leiblicher Kommunikation erschließt, das im Umgang mit den performativen Künsten aller Art von so überragender Bedeutung ist.

Und außerdem war mir sofort klar, daß sich auf dem Fundament dieser Kategorientafel der Leiblichkeit auch eine Anthropologie aufbauen lassen müsse, die Schmitz dann ja auch in Form des hier schon mehrfach zitierten Buches DIE PERSON 1980 erscheinen ließ. Schmitz selbst stellt sein Verfahren mit folgenden Worten vor:

„Es handelt sich darum, aus den leiblichen Regungen Grundzüge hervorzuheben, die in einer übersichtlichen Liste zusammengestellt werden können und durch ihre Kombination die unübersehbar reiche und schillernde Palette leiblicher Regungen ähnlich aufbauen, wie die Phoneme einer Sprache deren Worte und Sätze oder die chemischen Elemente die Stoffe der Chemie. Solche Grundzüge bezeichne ich als Kategorien der Leiblichkeit. Sie selbst sind leibliche Regungen, ebenso, wie die chemischen Elemente selbst chemische Stoffe sind und die isolierten Phoneme sprachliche Bedeutungsträger sein können. Sie stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern hängen in einem Gefüge zusammen, indem sie einander mehr oder weniger ergänzen und motivieren, fordern oder ausschließen. Dieses Gefüge der Kategorien der Leiblichkeit bezeichne ich als die Struktur des Leibes.

Die einzelnen Elemente dieser Kategorientafel der Leiblichkeit sind Engung und Weitung, Spannung und Schwellung, Intensität und Rhythmus, privative Engung und privative Weitung, Richtung und protopathische und epikritische Tendenz. Schon diese Aufzählung läßt erkennen, wie eng all dies mit ästhetischen Problemen, also mit ästhetischen und synästhetischen Anmutungen und Gestaltverläufen verwandt ist, und wie sehr sich diese Struktur der Leiblichkeit anbietet, um daraus ein anthropologisches Fundament für eine ästhetische Theorie zu erstellen. Und das habe ich dann ja auch vor allem in meiner Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens und in der über den kreativen Impuls versucht. Und damit habe ich Hermann Schmitz nach Wilhelm Kamlah und Helmuth Plessner zu meinem dritten philosophischen Mentor erhoben, und das ist er bis heute geblieben.

Daß ich bei der ersten Bekanntschaft mit dem Werk von Schmitz nicht kühl abwägend, sondern mit so tiefer Erregung reagiert habe und zum weit offenen Fenster in die Hopfengärten hinausgebrüllt habe »Warum kennʼ ich das nicht!?«, konnte mir nur Herder erklären, denn soweit ich sehe hat Herder sich in seiner Abhandlung VOM ERKENNEN UND EMPFINDEN DER MENSCHLICHEN SEELE als erster mit diesem Phänomen ausgiebiger befaßt, weil er in dieser Abhandlung ganz allgemein die These vertritt und ausführlich begründet, daß ein Erkennen ohne Empfinden gar nicht möglich sei, weil unser Denken geradezu vom Empfinden abhänge und von diesem gesteuert werde, denn, so Herder selbst:

„Alles sogenannte reine Denken in die Gottheit hinein ist Trug und Spiel, die ärgste Schwärmerey, die sich nur selbst nicht dafür erkennet. Alles unser Denken ist aus und durch Empfindung entstanden, trägt auch, Trotz aller Destillation, davon noch reiche Spuren.“

Und deshalb kommt er in dem Kapitel »Unser Denken hängt ab vom Empfinden« auch sofort auf die Beziehung zu sprechen, die man zu einem Lieblingsautor aufbaut und schreibt dazu:

„Jedes Gedicht, zumal ein ganzes, großes Gedicht, ein Werk der Seele und des Lebens, ist ein gefährlicher Verräther seines Urhebers, oft, wo dieser am wenigsten sich zu verrathen glaubte. Nicht nur siehet man bey ihm etwa, wie der Pöbel ruft, des Mannes dichterische Talente; man sieht auch, welche Sinne und Neigungen bey ihm herrschen? durch welche Wege und wie er Bilder empfing? wie er sie und das Chaos seiner Eindrücke regelte und fügte? Die Lieblingsseiten seines Herzens, so wie oft die Schicksale seines Lebens; seinen männlichen oder kindischen Verstand, die Stäbe seines Denkens und seiner Erinnerung. – Doch ich mag unsern Kunstrichtern, die von so etwas in ihrem Leben nicht geträumt, schon viel zu viel gesagt haben.

Freylich ist nicht jede Kothseele eines solchen Studiums werth; allein von einer Kothseele brauchte man auch keine Abdrücke, weder in Schriften noch in Thaten. Wo es der Mühe lohnt, ist dieß lebendige Lesen, diese Divination in die Seele des Urhebers das einzige Lesen und das tiefste Mittel der Bildung. Es wird eine Art Begeisterung, Vertraulichkeit und Freundschaft, die uns da, wo wir nicht gleich denken und fühlen, oft am lehrreichsten und angenehmsten ist, und die eigentlich das, was man Lieblingsschriftsteller nennt, bezeichnet. Solches Lesen ist Wetteifer, Hevristik: wir klimmen mit auf schöpferische Höhen, oder entdecken den Irrthum und die Abweichung in ihrer Geburtsstätte. Je mehr man den Verfasser lebendig kennt und mit ihm gelebt hat, desto lebendiger wird dieser Umgang.“

Soweit der Auszug aus diesem Kapitel.

Der Erkenntnis-Schub, den ich durch die Philosophie der Leiblichkeit von Hermann Schmitz erfahren habe, hat aber noch einen anderen Aspekt, und zwar den, daß sich die einzelnen Teile dieses »Alphabets der Leiblichkeit« problemlos in den Theaterjargon übersetzen lassen. Im Jargon der Theaterleute, aber auch im Fachjargon der Sänger, Artisten, Musiker und Sportler, also all derer, die in ihrem Beruf besonders intensive Leiblichkeits-Erfahrung machen, hat sich nämlich über die Jahrhunderte hinweg ein Wissen angesammelt, das man genau so ernst nehmen muß wie das Wissen, das die Wissenschaftler und Philosophen erarbeitet haben, auch wenn dieses Wissen völlig unsystematisch-naturwüchsig entstanden und deshalb einigermaßen lückenhaft ist.

Das große Verdienst von Schmitz besteht nun darin, mit seinem »Alphabet der Leiblichkeit« eine streng systematisch geordnete Terminologie vorgelegt zu haben, in die man die einzelnen Wörter und Wendungen dieser Fachjargons übersetzen und einordnen kann. Was die Theaterleute als ›Verstehen mit dem Bauch‹ oder als ›Mitgehen‹ bezeichnen heißt dann bei Schmitz eben ›Einleibung‹ und ist damit genau beschreibbar.

Mit einem Wort: Schmitz hat durch seine Philosophie der Leiblichkeit dieses spezifische vor- und außer-wissenschaftliche Wissen gleichsam ›gerettet‹ und ›gerechtfertigt‹ und damit all den Wissenschaftlern, die sich mit den performativen Künsten zu befassen haben, einen enormen Dienst erwiesen, den man nicht hoch genug preisen kann.

Aus all diesen Gründen kann ich im Rückblick auf meine Bekanntschaft mit Hermann Schmitz und seinem Werk nur dankbar sagen: Welch ein Gewinn!

Dr. Lenz Prütting


Hermann Schmitz (geb. 16. Mai 1928, gest. 5. Mai 2021): „Wie wir in der Welt sind“

„Wenn ich vom Leib spreche, dann meine ich nicht den menschlichen Körper, den wir betasten und über unsere fünf Sinne wahrnehmen können, sondern all die Regungen, die wir in dessen Gegend spüren. Beispielsweise Hunger, Lust, Angst oder Frische.“ (Aus einem Interview mit Inna Barinberg und Simone Miller in: Philosophie Magazin, Nr. 32, Feb./März 2017)

Zum Wintersemester 1990/91 nach Kiel berufen, im Gepäck ein Manuskript zur Körpergeschichte Chinas, traf ich Hermann Schmitz und die Neue Phänomenologie. Das Manuskript versank in der Schublade. Ich begann von vorn: Der ersten Begegnung folgten gemeinsame Veranstaltungen, Mitarbeit im Vorstand der Gesellschaft (für Neue Phänomenologie), Gespräche, Besuche und bis zuletzt Briefe, auch mit Fragen zur Sache: stets freundlich und präzise von Hermann Schmitz beantwortet - und ebenso präzise von Hand!

Als Sinologin kam mir „das Alphabet der Leiblichkeit“ wie gerufen: Von jeher war die chinesische Philosophie mehr am gespürten Leib interessiert als am tast- und sichtbaren Körper und die Übersetzung der Texte in ein vom Körper-Geist-Dualismus geprägtes Denken und Sprechen immer von Unbehagen begleitet: Die Lebenskraft Qi ist Spürphänomen par excellence und altchinesisches Denken in diesem Sinne archaische Leibphilosophie.

Da unterschiedliche Zugangsweisen Unterschiedliches am Material zutage fördern, ist Methodenvielfalt in den Kulturwissenschaften unverzichtbar. Steht aber subjektive Leib- oder Lebenserfahrung auf dem Prüfstand - aktuell oder eingelassen in Texte, dann geht für mich kein Weg an der Neuen Phänomenologie vorbei: Der Umgang mit Gefühl mag verschieden sein von Kultur zu Kultur, von Epoche zu Epoche. Auf einer tieferen Stufe des Erlebens aber kommen die Menschen überein: Auch in China „hüpft“ nicht nur „das Herz vor Freude“, die ganze Person ist mit davon erfasst. Wie Freude sucht Zorn die Weite, wenn dem Zornigen „die Kappe anschwillt“. Umgekehrt bringen Metaphern für Angst oder Scham leibliche Engung ins Bild.

Lassen wir Hermann Schmitz zu Wort kommen auf die Frage, worin der lebenspraktische Nutzen der Neuen Phänomenologie besteht:

„Ich bin kein Prophet, der ins Leben eingreift, die Fahne hochhält und die Leute weiterführt. Es gibt aber eine ganze Reihe von Wissenschaften, die eine phänomenologische Kur verdient hätten, zum Beispiel die Medizin und die Psychologie. Beide Wissenschaften berufen sich vor allem auf die vorher schon angesprochenen „objektiven Tatsachen“. Sie interessieren sich also meistens nur für die physiologischen Grundlagen von Krankheitsbildern. Verloren geht dadurch die Aufmerksamkeit für das Erleben der Patienten. Schmerz ist zum Beispiel nicht gleich Schmerz. Er kann stechen, pochen, ziehen, drücken, schwelen und noch viel mehr. Man muss schon genau sagen, was man meint, wenn man ein Wort wie Schmerz gebraucht. In der klinischen Praxis herrscht demgegenüber ein Mangel an begrifflicher Differenzierung und an Einfühlung in die Situation der Patienten. Dadurch verengt sich auch der Blick für therapeutische Möglichkeiten. Es freut mich deshalb sehr, dass es heute einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen… gibt, die meinen Ansatz für ihre Forschung nutzen und weiterentwickeln." (Ebd.)

Auch wer nur selektiv aus dem „unerschöpflichen Gegenstand“ der Neuen Phänomenologie schöpft, dem bleibt nicht verborgen, wie stringent und doch geschmeidig die Begriffe und Konzepte sind, die sich auf alle Bereiche der Philosophie erstrecken: von der Anthropologie über das Göttliche, alle möglichen Künste, inklusive Architektur und Dichtkunst, bis hin zur Ethik. Dieser umfassende Ansatz einer Theorie der (Selbst)Wahrnehmung und der Mut, Mitte des 20. Jahrhunderts ein System der Philosophie in zehn Bänden vorzulegen, immer wieder daran zu feilen, verdienen Bewunderung und Dankbarkeit.

Was ich an Hermann Schmitz vor allem mochte? Sein Lachen, manchmal so ganz für sich, und ein Repertoire von Gedichten, die er auswendig vortrug, vor allem das eine, das er mir „schenkte“, als ich nach meiner Pensionierung Kiel verließ:

 

Verweile nicht und sei Dir selbst ein Traum.

Und wie du reisest, danke jedem Raum.

Bequeme dich dem Heißen und dem Kalten.

Dir wird die Welt, Du wirst ihr nicht veralten.

(Goethe)

 

Vielleicht gibt es eine Phänomenologie des Sterbens, aber keine des Todes. Wir wissen nicht, wie es sich anfühlt, in der großen Weite zu sein und „jenseits der weißen Wolken“. Dahin geht jetzt mein „spürender Blick“.

Gudula Linck, Freiburg im Mai 2021.


Ich bin im Zuge meiner Promotion auf das Werk von Professor Hermann Schmitz gestoßen und hatte das große Glück, ihn mehrere Male persönlich treffen und erleben zu dürfen und ihn als Korreferent für meine Dissertation zu haben. Jedes einzelne Treffen hat nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht und tief gewirkt. Die Klarheit, Originalität und Ernsthaftigkeit seines Denkens zu erleben, verbunden mit dem immer wieder aufblitzenden Humor, war ein großer Gewinn für mich. Ich bin sehr dankbar für diese prägenden Momente und Erfahrungen. Mit Trauer habe ich von seinem Tod erfahren. Die Erinnerungen und sein Werk werden bleiben.

Dr. Ziad Mahayni


Mit großer Bestürzung und tiefstem Bedauern habe ich erfahren, daß Herr Prof. Dr. Hermann Schmitz verstorben ist. Die Zeit, in der ich bei ihm studierte, in der ich ihm als wissenschaftliche Hilfskraft zuarbeitete und in der ich schließlich - unter seiner Leitung - meinen Doktorgrad erwarb, wird mir immer als besonders bereichernd und angenehm im Gedächtnis bleiben.

    Dr. Sebastian Wolf,  Kleve


Leibsein als Aufgabe.

Hermann Schmitz' Buch über den Leib ist als Untersuchung nicht bloß besonders gelungen, sondern kommt einer Neuentdeckung ihres Gegenstandes gleich. Phänomenologie übernimmt hier, wie schon mehrfach, die Funktion, gerade das, was sich gewöhnlich nicht zeigt, ans Licht zu heben, insbesondere das sichtbar zu machen, was unter der Herrschaft des naturwissenschaftlichen Denkens und der technischen Lebensführung verdrängt und verleugnet wird...

Was ursprünglich ein reines Pathos, die überwältigende Präsenz des Leibes war, wird unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen zu einem Verhalten, zu etwas,  das man können muß...

Leibsein ist heute eine Aufgabe. In zunehmendem Maße werden die elementarsten Vollzüge leiblicher Existenz wie Atmen, Einschlafen, Verdauen, Gebären, Sich-Lieben, alle Arten von Wahrnehmung etwas, das nicht von selbst seinen gemäßen Gang nimmt, zu dem vielmehr ein Können gehört. Schmitz' Buch vermittelt das Wissen um den Leib, das dieses Können leiten müßte.

Aus: Gernot Böhme, Leibsein als Aufgabe. Eine Besprechung des Buches Der Leib von Hermann Schmitz. In: Hippokrates. Wissenschaftliche Medizin und praktische Heilkunde im Fortschritt der Zeit. 40/1969, H.5., S. 186-191.

Prof. Dr. Gernot Böhme


Nachruf auf Hermann Schmitz

In den modernen Bibliotheken werden die Bücher nach Gröβe sortiert und gelagert. Die unerwarteten und überraschenden Funde, wenn man sich einen Bücherschrank anschaut, sind so in ein nicht-mehr-dasein zurückgewiesen. In den Büchern selbst sind solche Funde zum Glück noch möglich geblieben. Die durch intensive Übung geschärfte Sensitivität ermöglicht solche Funde, so wie ich 1985 in einer Note in ‚Das Andere der Vernunft‘ von Hartmut und Gernot Böhme Hermann Schmitz entdeckte. Seitdem hat mich die Neue Phänomenologie nicht mehr losgelassen. Als Staatsrecht- und Verwaltungsjurist war der Begriff der Bangnis für mich von groβer Bedeutung. Viele Regelungen öffentlichen Rechts haben ihren Ursprung im problematischen Verhalten der von Bangnis ergriffenen Menschen. Dieses Thema habe ich stets in meinen Vorlesungen an der Jura Fakultät in Groningen behandelt. Ich erinnere mich auch noch sehr gut, wie Hermann Schmitz, nachdem er sich zwei Tage lang die Sprecher der Niederländischen Juristenwelt angehört hatte, in seinem Schlussvortrag die bis dann angesprochenen Themen in einen ganz neuen und erfrischenden Zusammenhang stellte. Dies geschah auf der Konferenz ‚De rechtsstaat herdacht‘ anno 1989 in Groningen.

Dies war für mich der Anfang einer bis heute ununterbrochen Inspiration, die die Neue Phänomenologie mir schenkt. Ich hoffe, dass die neue Generation durch intensive Übung im Internet eine gleichwertige Intuition entwickelt, um Hermann Schmitz als einen überraschenden Fund kennen zu lernen.

Berend C. Vis

Groningen, 3. Juni 2021


Mit Trauer und Bestürzung erfahre ich vom Tod von Professor Dr. Hermann Schmitz. Ich habe in den 1990er Jahren bei ihm am Institut für Philosophie der Universität Kiel studiert. Ich habe mir seine Vorlesungen und das von ihm veranstaltete Seminar angehört. Obwohl ich manche Inhalte zu dieser Zeit nicht verstand, waren seine Vorlesungen fokussiert und gewissenhaft und haben mich dadurch tief angezogen. Im kalten Winter, während ich eines Abends in sein warmes Büro ging, half er mir, meinen Mantel auszuziehen, er beantwortete meine Fragen geduldig, und sein freundliches und großzügiges Lächeln, all dies erfüllte mich mit Wärme. 

Im Laufe der Jahre schickte er mir oft seine neuveröffentlichten Werke. Als chinesischer Student, der ein großes Interesse an seiner neuen phänomenologischen Theorie hat und seine Lehren gehört hat, habe ich besonderen Respekt vor ihm. Ich habe vier seiner Bücher in China übersetzt und mehr als zehn Artikel über seine Gedanken veröffentlicht. Ich werde weiterhin seine Bücher lesen und studieren, seine Gedanken in China verbreiten, um auf diese Weise seiner zu gedenken und mich an ihn zu erinnern.

Institut für Philosophie der Universität Zhejiang, VR.China

Prof. Dr. Xuequan Pang

am 20.5.2021


Ein persönlicher Nachruf für Prof. Dr. Hermann Schmitz

Die Nachricht über den Tod von Prof. Dr. Hermann Schmitz macht mich sehr traurig. Erst eine geraume Zeitspanne nach Eintreffen der Nachricht gelingt es mir, meine Betroffenheit in Worte fassen.

1989 besuchte ich eine Fortbildungsveranstaltung für Psychotherapeuten in Hamburg, deren wesentlicher Inhalt die "Neue Phänomenologie“ in ihrer Bedeutsamkeit für die Gestaltpsychotherapie war, und die für mich besonders mit der Erwartung auf eine erstmalige Begegnung mit Professor Schmitz und seinen Vortrag über den „Schwindel" verbunden war.
In meinem beruflichen Alltag als Arzt gehört dieses Symptom zu einem häufig beklagten Beschwerdebild. Viele Disziplinen der Medizin, wie z. B. die Innere Medizin, Neurologie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Psychiatrie, Psychotherapie und Orthopädie beschäftigen sich mit dessen Diagnostik und Therapie.
Meine bis dahin geringen Vorkenntnissen über die Neue Phänomenologie waren, wie ich während des Vortrages bemerkte, mangelhaft. Bereits vor den letzten Worten des Vortrages verließ ich leicht verunsichert, verwirrt und zugleich wohlig schwindelig den Raum. Daneben packte mich eine unbändige Neugier, darüber mehr zu erfahren.
Mein Verständnis für "Leib, Gefühl, Raum" im Sinne von Hermann Schmitz wuchs binnen weniger Monate sprunghaft mit der Lektüre des Buches "Leib und Gefühl, Materialien zu einer philosophischen Therapeutik“ ( Herausgeber: Hermann Gausebeck/Gerhard Risch). Ich hatte oft Gelegenheit mit den Herausgebern über Details zu sprechen.
Zunächst war es mühsam - dann zunehmend spannend - dann war ich begeistert - "so konnte es weitergehen".
Weite Teile des Werkes "System der Philosophie“, insbesondere die Bände II und III ( Leib und Raum) folgten - später dann „Höhlengänge“, „Adolf Hitler in der Geschichte“ und die Themen der Symposien der Gesellschaft für Neue Phänomenologie über die vergangenen Jahre. Für mich herausragend wurden zuletzt die Schriften über die „Liebe“ und die „Freiheit".

Die Bedeutung der Entdeckungen von Hermann Schmitz für mich persönlich möchte ich vor dem Hintergrund meiner Lebenserfahrung - neben Schulbesuch, Studium, einer Vielzahl von Erfahrungen aus dem praktischen Alltag - vor allem mit solchen vergleichen, die mir während einer Weltumsegelung Anfang der siebziger Jahre zuteil wurden:  Auf den Weg gebracht von einem ursprünglichen Wunsch für diese Unternehmung, oft allein und wie verloren am Ruder sitzend auf endlos weitem Meer unter einem ebensolchen Sternenhimmel, Kurs haltend je nach den meteorologischen Gegebenheiten und den Ergebnissen einer astronomischen Ortsbestimmung setzte ich das Wissen althergebrachter Seemannschaft in Theorie und Praxis um. In den in Begriffe gegossenen Gedanken der Neuen Phänomenologie finde ich für die Orts- und Kursbestimmung in der Vielfalt alltäglicher Situationen einen "neuen Kompass“.

Später, in meinem beruflichen Alltag als Arzt für Orthopädie mit Tätigkeitsschwerpunkten in der Chirotherapie und Psychotherapie eröffnete sich mir ein erweitertes Verständnis für Behandlungsprozesse. Das Wissen um „Einleibung“, „Richtungsraum“, „motorisches Körperschema“ und vieles mehr bereicherte mich wesentlich in der Ergänzung zu den zuvor vorwiegend naturwissenschaftlich geprägten Behandlungsansätzen. Das machte alles plötzlich “viel mehr Sinn“.
Eine Reihe meiner Patienten waren an diesem gedanklichen Hintergrund und Dialog interessiert.  Mit dem Verständnis aus der Neuen Phänomenologie konnte ich viele diagnostische und therapeutische Verfahren, die naturwissenschaftlich umfangreich oder zumindest ausreichend begründet waren, und auch sogenannte alternative Verfahren nun sinnvoll in angemessener Weise zum Wohle der Patienten anbieten und anwenden.

Ich danke Prof. Dr. Hermann Schmitz, dem mir großartigen Menschen und einem väterlichen Lehrer in einem sehr weiten befreienden Sinn, der mir ein den Ephemeriden vergleichbares Werk geschenkt hat.

Dr. med. Thomas Weber         Bergisch Gladbach - Bockholmwik, am 27.Mai 2021


Ich lernte Herrn Professor Gr. Hermann Schmitz bei philosophischen Voträgen im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Diabetologie näher kennen. In den Jahren 2004 bis 2008 war er ständiger Gast und Referent beim Rügen-Symposion „Interdisziplinäre Adiposologie“, welches von mir organisiert wurde. Dieses Rügensymposion versuchte Zugänge und zusärtzliche Aspekte der Dickleibigkeit herauszufinden, die über die rein medizinische Zugangsweise hinausreichen. Deshalb wurden zum Symposion neben Medizinern auch Philosophen und Soziologen als Referenten eingeladen. Die Themen von Hermann Schmitz waren:

  1. Fettsucht als Vergeltung des Leibes
  2. Entwicklungsstörungenim Verhältnis zu Eßstörungen
  3. Empfänlichkeit und Aktivität in der Nahrungsaufnahme
  4. West- Östliche Bäuche
  5. Die Persönlichkeit in gemeinsamen Situationen.

Der neophänomenologische Zugang durch Hermann Schmitz zum Phänomenbereich Dickleibigkeit verhalf insbesondere uns Ärzten zu besseren diagnostischen Einsichten in das sehr komplexe Geschehen und eine anderes Verständnis zur Befindlichkeit der Menschen mit starker Übergewichtigkeit. Dabei spielt die Leibvergessenheit der Schulmedizin eine bedeutende Rolle. Ich bedaure außerordentlich den Tod von Hermann Schmitz und werde weiterhin dem Themenbereich der Neuen Phänomenologie innerhalb meiner ärztlichen Tätigkeit verbunden bleiben.

 

Dr. med. Volker Haberkorn                                                                  Bergen, den 25.06.2021

Facharzt für Innere Medizin, Diabetologe auf Rügen


Ich trauere um den kürzlich verstorbenen Philosophen Hermann Schmitz. In sein Werk hatte ich mich vor einigen Jahren für meine Magisterarbeit sehr vertieft und die Ehre gehabt, ihn auch persönlich kennenzulernen. Trotz seiner Verschrobenheit sehe ich in ihm einen der interessantesten Philosophen des 20. Jahrhunderts.

Mangels Bekanntheit seines Werkes sollte man vielleicht sagen: einen, der dem philosophisch eher armen 20. Jahrhundert viel zu sagen gehabt hätte, wenn es bereit gewesen wäre hinzuhören. Hätten wir auf ihn und nicht auf den einerseits poststrukturalistischen, andererseits szientistischen Zeitgeist zu hören gewusst, hätte uns einige Unbill der Gegenwart vielleicht erspart bleiben können.

Gott hab ihn selig

Sascha Pahl


Für mich als Arzt tief beeindruckend war die weiterhin frohe und zufriedene innere Haltung trotz der schweren Behinderungen; und: das immerwährende Interesse am Gesprächspartner bis zuletzt. Tief beeindruckend, weil der Umgang mit Krankheit und Alter vielen nur schwer oder auch gar nicht gelingt, zumindest jedoch unter großen Klagen auch über eher geringfügige Beschwerden.

Als junger Assistenzarzt der Psychiatrie in den 80er Jahren, mit noch extrem steilen Hierarchien, hatte ich eine schriftliche Frage (ohne Erwartung, dass ein großer Ordinarius mit antworten würde). Die Antwort umgehend und verbunden mit einer persönlichen Einladung zu einem Treffen der Psychotherapeuten in Hamburg.

Dort entstand dieses Photo:

 

Über alle Jahre hat er mir geduldig meine Fragen beantwortet und sich zudem tief in die Materie der Diabetologie eingearbeitet. Nicht nur in Theorie, sondern auch in Praxis, i.e. im unmittelbaren Patientenkontakt:

 

Das Photo zeigt Schmitz mit einer blinden Patientin, die uns seinerzeit in einem Seminar das blindengerechte Führen erklärt hat.

In zwanzig Jahren hat er in vielen nationalen Diabetesseminaren philosophische Besinnung induziert, Diskussionen angeregt, die zum Teil bis tief in die Nacht dauerten.

Das Photo zeigt Schmitz abends/nachts zusammen mit Prof. Michael Berger, einem der bekanntesten deutschen Diabetologen und seiner Gattin, Professor Ingrid Mühlhauser.

Ein mir unvergessenes Gespräch ist mir bis heute präsent: Schmitz hört – lange – einem deutschen Großdiabetologen zu, der ihm erklärt, was Aristoteles eigentlich wollte ...; hörte zu in seiner unnachahmlichen Art (Ahh, ja...) ... und ließ es dabei bewenden.

Hermann Schmitz konnte aber auch scharf sein in der Diskussion und in bestimmten Themen unerbittlich. Das hat mir sehr gefallen:

Seit Gründung der Gesellschaft für Neue Phänomenologie (Photos des 1. Symposiums):

war ich dabei und habe insbesondere für meine medizinische Fragestellung (wie kommt es zu grotesken Wunden bei Menschen mit Diabetes ?) großen Gewinn gezogen. Der Begriff „konstanter Leibesinselschwund“ ist durch die Leibphänomenologie entstanden.

Im Umgang mit adipösen Patienten war seine Formulierung: „Faszination durch Süßes, Fettes und Weiches“ in den Seminaren zur Entspannung erregter, z.Tl. aggressiver Ärzte unendlich hilfreich (Ein Video hierzu findet sich in YouTube).

Legendär in der Diabetologie waren zwei mehrtägige Oberseminare in Bayern, in die jeweils Bergwanderungen integriert waren. Im ersten Jahr (die Teilnehmer in Bergkleidung und derben Wanderschuhen) bestieg Schmitz den Berg in schmalen, dünnsohligen Straßenschuhen und im leichten Regenmantel. Am Gipfel, die erschöpften Diabetologen, Schmitz bei bester Laune:

Im zweiten Jahr war die Besteigung der Kampenwand zunächst wegen Unwetter abgesagt, dann für den nächsten Tage unter Warnungen freigegeben. Für „ältere“ Teilnehmer war ein ungefährlicher Wanderweg als Alternative angeboten. Auf mein Angebot, ihn auf diesem Weg zu begleiten, Schmitz: „Natürlich gehe ich auf die Kampenwand, ich habe mir ja auch eine entsprechende Ausrüstung besorgt“. – Panik im Organisationskomitee. Der Aufstieg im Nebel, bei nassem, glitschigem Grund; der Abstieg noch beschwerlicher. Alle Diabetologen in Hilfebereitschaft um Schmitz. Mein Angebot einer Unterstützung beantwortete Schmitz liebenswürdig: „Herr Risse, das ist sehr nett, Sie sind als Arzt sozialisiert Menschen zu helfen, aber ich gehe lieber alleine“ – DAS wurde ein Hinweis, den ich seitdem in meinen Seminaren zum Arzt-Patienten-Verhältnis zum Ausgang nehme.

Hier Bilder, die nur näherungsweise die Dramatik der Bergtour wiedergeben:

Am Ende ist alles gut gegangen:

Nicht zu unterschätzen, die Bedeutung seiner Diskussionsbeiträge, die aufgrund seiner diabetologischen Sachkenntnis, für die Diabetologen auch in ihrem philosophischen Implikat verständlich waren. Nachzulesen auch im Standardlehrbuch der Diabetologie von Michael Berger.

Unvergessen für mich natürlich auch die Lesungen in Hamburg bei Dr. Werhahn:

Der Beitrag zur Philosophie kann von mir nicht ermessen werden. Für die Organmedizin / Diabetologie war er enorm. Leider nimmt in der aktuellen Entwicklung der Medizin die Nachfrage nach philosophischer Besinnung ab um der radikalen Ökonomisierung der Körpermaschine Platz zu machen.

Beide, Schmitz und Werhahn sind in kurzer Folge von uns gegangen:

Bleibt zu hoffen, dass der Band V des Systems ...

und

dass die Eule der Minerva in der Gesellschaft für Neue Phänomenologie weiterfliegt.

Bleibt mir noch der Dank für diese wunderbaren Jahrzehnte der Bereicherung und Zuwendung.

Ich würde natürlich gerne noch viel mehr erzählen ...

(Ein Band mit den kompletten Photographien seit Beginn findet sich im Marbach-Institut.)

Trauer, Abschied, tiefer Dank ...

Mit einem Bild aus glücklichen Zeiten:

 

Alexander Risse, Diabetologe und Facharzt für Innere Medizin und Angiologie


Ich habe Hermann Schmitz nur dreimal persönlich getroffen (Göttingen, Berlin und Rostock) und nur beim ersten Mal konnte ich mich ein wenig mit ihm unterhalten. Leider. Aber wir hatten eine stabile und (für mich jedenfalls) fruchtbare Korrespondenz.
Ich las Hermann Schmitz, zunächst zufällig, als Ich mich vor zwanzig Jahren mit der Frage der "Geistleiblichkeit" bei Schelling und in der pietistischen Mystik (Oetinger) beschäftigte, dann aber mit wachsendem Interesse und dem Wunsch, mich in die Neue Phänomenologie zu vertiefen. Ich hatte dann die Ehre, als Erster eines seiner Bücher ins Italienische zu übersetzen und später daran zu arbeiten, die erste englische Übersetzung desselben Buches zu veröffentlichen.
Ich habe viel von ihm und seinen Büchern gelernt, vor allem von seinen weniger offensichtlichen Intuitionen, die manchmal vielleicht den gesunden Menschenverstand irritieren und gerade deshalb absolut fruchtbar sind. Angefangen bei der Frage nach den Atmosphären, mit denen ich mich schon seit langem beschäftige.
Aber es ist vor allem die Radikalität seines Denkens, die für mich ein Vorbild darstellt, in einer Zeit der schwachen Philosophien, die mit Klischees hofieren und versuchen, es allen recht zu machen. Deshalb erinnere ich mich gerne daran, wie er (3.12.2014) auf eine Bemerkung von mir zur Bedeutung seiner philosophischen Radikalität antwortete: "Meines Radikalismus gegen die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung, die Weltspaltung und die Menschenspaltung in deren Gefolge, können Sie sicher sein."
Ja, das ist er! Hermann Schmitz wird uns fehlen!

Tonino Griffero, Professor für Ästhetik an der Universität in Rom


Der Münchner Arbeitskreis für Neue Phänomenologie nimmt Abschied von Hermann Schmitz

Hermann Schmitz war ein Ausnahmemensch mit einer herausragenden Gabe zur Präzisierung des Unbestimmten. Die Tragweite seines Werkes ist unermesslich. Seine Perspektiven sind für uns wie ein Turm, von dessen Spitze aus man Orientierung findet für dieses Menschsein. Es ist mühsam und eine Lust, dort hinaufzusteigen. Und immer lohnenswert! In dem Bemühen, seine Gedanken zu erfassen und zu verstehen, lernt man sich und die Welt immer wieder aufs Neue kennen. Sein Erbe ist nichts Geringeres als "ein unerschöpflicher Gegenstand", der manchmal das Denken erschwert und irritiert, aber gleichermaßen auch das Leben erleichtern und bereichern kann. Für die Erkundungsmöglichkeiten, die Hermann Schmitz´ Werk angeboten hat und weiterhin eröffnet, sind wir dankbar.

(Bettina Felber, Robert Gugutzer, Henning Hintze, Robert Kozljanic, Eckard Krüger, Thomas Latka, Miriam Mahlberg, Viola Straubenmüller, Charlotte Uzarewicz, Michael Uzarewicz, Barbara Wolf)


Ein Kapitän hat abgedankt, sein Schiff fährt weiter.
Ich bin es, die traurig ist, aber auch diejenige, die sich freut:
Über jeden Tag, an dem ich Menschen weiterbringen kann
mit den klugen Gedanken von Hermann Schmitz.

Barbara Wolf, Erziehungswissenschaftlerin und Pädagogin


Hermann Schmitz steht für mich für Geradlinigkeit und für die Freiheit des Denkens. Bei mir hat er die „Weitung des Blicks“ bewirkt, die er mit seinem Werk angestrebt hat.

Dr. phil. Werner Müller-Pelzer

Studiengangsleiter International Business deutsch- französisch und deutsch-hispanisch (1990-2014), Fachbereich Wirtschaft, Fachhochschule Dortmund



Mit Trauer und Bestürzung erfahren wir vom Tod von Professor Dr. Hermann Schmitz. Mit unserer Mutter Dr. Karin Hofter (1927-2015) verband ihn seit den gemeinsamen Studienzeiten in Bonn 1951 eine enge Freundschaft, die sich in einem intensiven geistigen Austausch sowohl brieflich wie persönlich niederschlug und der das intellektuelle Klima und die Diskussionen in unserer Familie nachhaltig prägte.
Da unsere Mutter nicht mehr ihr Beileid aussprechen kann, tun wir es an ihrer Stelle. Seinen Mitstreitern von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie, seinen Kollegen, Freunden und Angehörigen gilt unser tiefstes Mitgefühl.

Gilbert Hofter        Dr. Mathias Hofter          Sibylle Hofter


Mit Betroffenheit habe ich die Nachricht vom Tod eines Menschen erhalten, der mir seit meiner Promotionszeit namentlich bekannt war und dessen Leib-Begriff mich zuerst zu Nietzsche und später in die Phänomenologie geführt hat. Wir haben uns erst 2012 persönlich kennengelernt, dann standen wir allerdings in häufigem Briefwechsel. Ich verdanke Hermann Schmitz und seinen vielen Anregungen mein letztes großes Buch - den Atemkreis der Dinge - zu dem er mir über lange Zeit Einwendungen machte, Hinweise gab und Fragen stellte. Der Kern der Auseinandersetzung war der Begriff der Korrespondenz, das Verhältnis von "Situation" und "Atmosphäre", die Frage nach einem "Wir" in einer Zeit, die durch Selbstungewissheit, rationalistische Selbstermächtigung und die Einsamkeit des Individuums gekennzeichnet ist. In seinem eigenen Atmosphären-Buch dankte er mir im Vorwort. Dadurch verdankte ich ihm den Eintritt in den Alber-Verlag, der nun wegen seiner Empfehlung auch mein Buch drucken wollte. Wäre er nicht gewesen, mein Denken wäre vielleicht im Kunstauslegungsbetrieb der UDK Berlin verkommen. So erfuhr ich eine phänomenologische Neufundierung. Ich muss sagen, dass er mich teilweise regelrecht angeworben hat, dass er wissen wollte, dass er kritisierte und lobte, auf Unstimmigkeiten wies, ganz wie ein zweiter später Doktorvater! Seine Briefe sind zahlreich, die Begegnungen waren daran gemessen wenige aber stets gut. Sein letzter handgeschriebener von 2016 handelte von den begrifflichen Vorbedingungen der Korrespondenzphilosophie und endete mit dem erschütternden Satz. "Ich bin nicht mehr in der Lage, noch zu lesen, was ich geschrieben habe." Dass er nicht aufgab, mit der "Lesemaschine" weitermachte und diktierte, wusste ich zu schätzen.

Ich bin in meinen vielen Philosophiejahren vielen zeitgenössischen Denkern begegnet und bin sicher, dass er eine gewaltige Größe war. Die Zeit wird zeigen, dass er  länger "halten" und breiter wirken wird, als so mancher kommunikationstheoretische Scharfsinn unserer Tage!

Reinhard Knodt, Philosoph


Meine erste Begegnung mit Hermann Schmitz war im November 2008, beim Vortrag im Haus von Dr. Werhahn. Ich habe Herrn Schmitz damals geschrieben: "Es war ein schöner Freitagabend. In konzentrierter und kultivierter Atmosphäre war man Ihnen ganz zugewandt, einer Atmosphäre erzeugt aus Ihrer klaren Rationalität, geführt von Ihrer einnehmenden Freundlichkeit und nicht zuletzt geeint durch Ihre entwaffnende, mit Verlaub gesagt, spitzbübische Heiterkeit, die mir eine bleibende Erinnerung sein wird." – Vielen Dank für Ihren unermüdlichen Kampf gegen das tote Reduktionistische und für das ewig Poetische.

Rudolf Gaßenhuber, Psychotherapeut


Hermann Schmitz begegnet sein zu dürfen, war ein großes Geschenk. In zahlreichen Symposien, beim Gesprächskreis im Hause seines Freundes, Weggefährten und Förderers Hans Werhahn und im unmittelbaren persönlichen Kontakt die allein schon faszinierende Lektüre seiner Bücher durch seine Worte und nicht zuletzt auch persönliche Zuwendung (ein Begriff, der seinen "vitalen Antrieb" wesentlich ausmachte) so aus erster Hand bereichert zu erleben, war für mich anfänglich kaum zu fassen, wie es nun gleichfalls schwer fällt, künftighin darauf verzichten zu müssen. Wenige Wochen vor seinem Tod wagte ich noch einen Anruf, um für eine fast fertiggestellte Studie noch einen Rat zu erbitten und durfte seine freundliche, immer hilfreiche und interessierte Unterstützung noch ein weiteres, letztes Mal erfahren.

Ich bin tief überzeugt, dass seine Philosophie in ihrer Vielschichtigkeit einem Kunstwerk gleichkommt, und dass die Wieder- und Neuentdeckung des Leibes in seiner Phänomenologie eine unentbehrliche Brücke bildet für die gegenwärtige Philosophie und Wissenschaft - hin zu einer geistvolleren Lebensanschauung. 

Mit großem Dank

Matthias Veit, Musiker und Hochschullehrer


Die Neue Phänomenologie hat mein Leben bereichert und mir geholfen, hinter die verdeckte Wirklichkeit zu schauen. Ich bin dankbar. Die sorgfältigen Beobachtungen und systematischen Einordnungen, die bisherige Vorstellungen zum Menschen überwinden, sind geeignet, in Zeiten des Wandels Besinnung und Orientierung zu ermöglichen. Möge das Werk von Hermann Schmitz vielen Menschen bekannt werden und seine Wirkung entfalten.

Matthias Freyberg


"Nachruf auf unseren Emeritus Prof. Dr. Hermann Schmitz (1928- 2021)" vom Philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität Kiel: https://www.philsem.uni-kiel.de/de/termine-und-aktuelles/nachruf-auf-unseren-emeritus-prof-dr-hermann-schmitz-1928-2021 .


Hermann Schmitz, geb. am 16.5.1928 in Leipzig, gest. am 5.5.2021 in Kiel

Ein Nachruf

Philosophie ist: Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung.“ Diese Definition stellt Hermann Schmitz 1990 seinem Buch „Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie“, einer Summula seines zehnbändigen „System der Philosophie“ (1964 bis 1980) voran. Der Mensch Hermann Schmitz hat als Philosoph der Erfüllung dieser Definition sein Leben ganz und gar gewidmet. Für sein am 5. Mai 2021 im Alter von beinahe 93 Jahren zu Ende gegangenes Gelehrtenleben gab es nahezu kein Privatleben. Auf eine Familie hat er verzichtet, da er – wie er selber einmal sagte – die Einsamkeit zum Denken brauchte. Eine enge Freundschaft zu Hans Werhahn, die noch aus den frühen 50er Jahren im für die vielfältige deutsche Nachkriegsphilosophie so produktiven Rothacker-Kreis in Bonn datierte, hat ihn in seinem Philosophen-Dasein bis zum Tod des fünf Jahre älteren Freundes 2018 allerdings auch in privater Hinsicht eng und immer wieder unterstützend begleitet. Trotz seiner Betonung der Einsamkeit als Voraussetzung für sein unermüdliches Denken ...

Lesen Sie den Nachruf der GNP hier weiter.


Artikel/Interview: "Zum Tod des Philosophen Hermann Schmitz - Ergriffen von der Macht der Gefühle" (Deutschlandfunk Kultur).


Artikel: "Das Phänomen Hermann Schmitz" (Focus).


Artikel: "Gestorben, Hermann Schmitz, 92" (DER SPIEGEL).


Artikel: "Hermann Schmitz gestorben. Die Säfte unter der Haut" (FAZ).